Agile Organisation – quo vadis? – Folge II
Agile – ein Marathon
Agile ist aus Unternehmen nicht mehr wegzudenken. Nach dem ersten Hype wird Agile heute stark inhaltsfokussiert, konstruktiv und mit Blick auf Skalierbarkeit angewendet. Prof. Dr. Ayelt Komus und Thomas Heupel ziehen eine insgesamt positive Bilanz aus ihrer Beratungspraxis und empirischen Forschung. Klar ist: Agile ist ein Marathon.
In der dreiteiligen Serie „Agile Organisation – quo vadis?“ beleuchten Prof. Dr. Ayelt Komus und Thomas Heupel im Gespräch mit Claudine Heinz unterschiedliche Facetten zur Entwicklung der agilen Organisation.
Gibt es Funktionsbereiche, die sich mit dem Thema Agilität weniger auseinandersetzen?
Komus: Dass sich der Einkauf mit dem Thema Agilität in vielen Unternehmen insgesamt schwertut, ist grundsätzlich erwartbar. Spannend ist: Im Personal- und Organisationsentwicklungsbereich nimmt man eine große Unsicherheit und Suche nach Orientierung wahr. Man weiß in vielen Organisationen nicht, wie man mit dem Thema umgehen soll. Obwohl jetzt doch die Top-Themen, die bereits vor 20 bis 30 Jahren in der Organisationsentwicklung gefordert und diskutiert wurden, aktiv gelebt werden.
Ein Grund für die Berührungsängste und die Zögerlichkeit mag sein, dass es sich dabei vermeintlich um Methodiken aus dem IT-Bereich handelt. Und in der Tat stehen wir vor einer vermeintlich absurden Situation: Jetzt müssen sich Betriebswirtschaftler und Personaler von den „Nerds“ erklären lassen, wie moderne Unternehmensentwicklung funktioniert.
Gnadenlos – agile Methoden geben sofort Feedback
Heupel: Agile Methoden sind grundsätzlich dort vorteilhaft, wo es uns schwerfällt, Dinge mit den bewährten Methoden zu messen, anzuweisen usw. Überall dort, wo ich empirisches Wissen brauche. Dafür sind agile Methoden regelrecht gnadenlos – im positiven Sinne, insofern man sofort eine Rückmeldung bekommt. Vielleicht kommen sie gerade deswegen aus der IT, weil diese so abstrakt ist. Die IT lebt schon seit Jahrzehnten mit dieser immensen Herausforderung, oft erst nach Jahren zu wissen, ob überhaupt etwas Brauchbares herauskommt oder ob man nur Luftschlösser gebaut hat.
Wo liegen Ihre wichtigsten Beratungsschwerpunkte hinsichtlich Agile?
Heupel: Die Diskussionen in den Unternehmen sind erwachsener geworden. Auch im Kontext von Corona hat man sehr viele Erfahrungen gesammelt. Einem Leuchtstern läuft niemand mehr hinterher. Man ist sehr viel konstruktiver und adaptiver in der Diskussion um Lösungsansätze. Gerade bei Dingen, die man jetzt nach Corona beibehalten möchte. Wo ein gewisser Damm gebrochen ist. Wo man das, was als Fluss entstanden ist, jetzt etwas kanalisieren möchte.
Agile – quo vadis? Ein Universum an Denkansätzen
Komus: Es gibt mittlerweile so viele verschiedene Konzepte. Wir haben ein ganzes Universum an neuen Denkansätzen und Methoden. Im Markt sind mittlerweile leider auch sehr viele Menschen, die das Thema mit ihren ganz eigenen Vorstellungen verkaufen. Insofern muss man sich zunächst die Fragen stellen: Was bedeutet es für mich? Wie bringe ich es in eine sinnvolle Reihenfolge? Wie ziehe ich daraus die Wertschöpfung? Und sich eben nicht treiben zu lassen von der Vielzahl der Methoden, die dann wieder in einen Plan gegossen werden: Jetzt muss ich Scrum, jetzt Design Thinking, jetzt SAFe machen. Denn das ist dann wiederum auch nicht sehr agil.
Ein guter Handwerker betrachtet zuerst den Kontext
Für mich gehört zu agil auch: Jedes Unternehmen hat einen anderen Kontext, eine andere Aufgabenstellung, andere Prozesse, andere Mitarbeitende, eine andere Kultur. Ich muss von dort aus starten, wo ich jetzt stehe. Für mich passt dieses Bild sehr gut: Ein guter Handwerker hat die Fähigkeit sich erstmal den Kontext anzusehen. Er fasst sein konkretes Objekt und Ziel ins Auge. Anschließend wählt er die richtigen Werkzeuge aus – und nicht nur die modernsten, nach dem Motto: schau mal, was ich für ein tolles Werkzeug habe.
Kompetenz für agilen Werkzeugkasten
Heupel: Unsere Aufgabe als Berater ist es zum einen, diesen riesigen Werkzeugkasten zu sortieren, einzuordnen, nach den Potenzialen zu schauen. Natürlich gehört dazu auch, die großen Herausforderungen in der Organisation, im Markt, in den Prozessen so lange zu begleiten, bis es läuft. Zum anderen ist es unsere Aufgabe, die Kompetenz und das Arbeiten mit den breiteren Portfolios und Werkzeugen zu vermitteln und weiterzugeben.
“Agile ist eine Marathonaufgabe. Sie ist dauerhaft, man muss die Kräfte einteilen und die Erwartungshaltung realistisch einschätzen. Wichtig ist es zu verknüpfen, Ressourcen sinnvoll einzusetzen und nach Projektabschluss trotzdem nicht nachzulassen. Das ist in vielen Organisationen sicherlich eine der großen Herausforderungen.”
–> In Folge III erfahren Sie, vor welche Herausforderungen sich Unternehmen auf dem Weg zur agilen Organisation hinsichtlich des Mindsets und der Unternehmenskultur gestellt sehen.
–> Folge I verpasst? Hier geht’s zum Auftakt unserer dreiteiligen Serie „Agile Organisation – quo vadis?“
Prof. Dr. Ayelt Komus ist Wirtschaftswissenschaftler und seit 2004 Professor für Organisation und Wirtschaftsinformatik an der Hochschule Koblenz. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Agile Methoden, Projekt- und Prozessmanagement und Social Media. Prof. Dr. Komus ist Initiator verschiedener Studien in Zusammenarbeit mit Organisationen wie der Gesellschaft für Prozessmanagement, der Deutschen Gesellschaft für Projektmanagement (GPM) und Scrum.org. Er führte 2019/2020 zum vierten Mal die Studie Status Quo Agile durch. Sie ist mit mehr als 600 Teilnehmern die größte Studie zum Thema Agiles Projektmanagement im europäischen Raum. Prof. Dr. Komus ist wissenschaftlicher Beirat bei Heupel
Consultants.
Thomas Heupel ist Geschäftsführer von Heupel Consultants. Er verfügt über mehr als 25 Jahre Beratungsexpertise in den Kompetenzfeldern Process-Excellence, IT-Excellence, Project-Excellence und Agile Excellence. Heupel hat einen Lehrauftrag u.a. für Organizational Change Management an der Hochschule Koblenz.
Claudine Heinz ist freischaffende Kommunikationsberaterin und war über 20 Jahre in der Unternehmenskommunikation, u.a. bei Swisscom in Bern und CSL Behring in Marburg, tätig. Ihre Schwerpunkte sind Internal & HR Communications, Change Management, Employer Branding und Design Thinking.