Mit Vollgas in die Achtsamkeit
Es ist Mittwochabend, 18.00 Uhr, mein Online-MBSR-Kurs beginnt. Ich komme aus einem vollen Tag, habe viele Gespräche geführt, mit Kunden, mit dem Team, ich habe zugehört, ein virtuelles Meeting hat sich ans andere gereiht. Ich hatte kurzfristige Entscheidungen zu treffen und über strategische Schritte nachzudenken …
Ich wähle mich also ein und höre die Stimme unseres Kursleiters, Dr. Sven Lohrey:
„Vielleicht möchtet Ihr Euch zunächst bei Euch selbst bedanken, dass Ihr Euch jetzt die Zeit für Euch nehmt. Heute geht es darum, in liebevoller Achtung für sich selbst und den eigenen Körper zu sorgen.“
Wieso geht es um meinen Körper, frage ich mich. Welche Rolle spielt der denn? Ich bin nicht krank (und auch nicht infiziert – Gott sei Dank). Mein Körper funktioniert wunderbar, und jetzt, in der aktuellen Situation, ist doch Denken das Wichtigste, oder nicht? Nachdenken, Vordenken, neue Ideen spinnen, zukunftsrelevante Lösungen erarbeiten, reflektieren, was gerade in der Krise passiert, wie es weitergehen kann. Das ist es doch, scheint mir.
Achtsamkeits-Yoga online
Bevor ich diese Gedanken zu Ende denken kann, starten wir mit dem Achtsamkeits-Yoga, und ich liege auf der Matte und höre Svens Anweisungen für die einzelnen Übungen.
Ich hadere mit dem Bildschirm und mit meiner Unterlage und frage mich, ob das online wirklich klappen kann. Lieber würde ich jetzt, zusammen mit den anderen Teilnehmern, im Seminarraum liegen und unseren Kursleiter beim Vormachen beobachten. In der Online-Version des MBSR-Kurses sehe ich bloß lauter schwarze Bildschirme der anderen und höre Svens Stimme über meine Kopfhörer. Das Kabel ist leider so kurz, dass ich nicht genug Platz habe für meine Übungen, weil ich gleichzeitig den Bildschirm im Blick haben muss.
Das geht so nicht, denke ich genervt, und überhaupt, was soll das bringen? Sanfte Übungen? Normalerweise mache ich „richtig” Sport, wenn ich mich körperlich betätigen will.
Was bedeutet Achtsamkeit?
Plötzlich schießt mir ein Gedanke aus dem Kurs der letzten Woche durch den Kopf:
„Achtsamkeit bedeutet, die aktuelle Situation ohne Filter, ohne Interpretation wahrzunehmen. Es ist eine unmittelbare Übung in kompromissloser Offenheit und Präsenz.“
Baang … Ich nehme den Gedanken wahr und beginne, mit voller Aufmerksamkeit, Svens Anleitungen zu folgen.
„Beobachtet mal, was Ihr spürt“
höre ich Sven sagen.
„Vielleicht spürt Ihr das Blut in euren Armen, wenn Ihr sie langsam über den Kopf führt.“
Und da ist es: ein Gefühl für meine Arme. Es kribbelt und fühlt sich warm an. Jetzt spüre ich auch, wie verspannt mein oberer Rücken ist, wie steif mein Nacken. Ich spüre meinen Körper!
Die Gedanken weiterziehen lassen
Langsam werde ich ruhiger, kann mich ganz auf die Übungen einlassen. Sven bittet uns, darauf zu achten, wo unser Körper uns Grenzen zeigt oder wo wir zu viel Ehrgeiz entwickeln und uns besonders weit dehnen wollen … Das Wort „Ehrgeiz“ schwingt nach … Wo gehe ich immer wieder über meine Grenzen, wo ignoriere ich Zeichen meines Körpers, nehme sie gar nicht wahr, weil mein Geist meinen Körper „beherrscht“ und weil meine Disziplin so groß ist?
Ich lasse den Gedanken weiterziehen, wie eine Wolke, und konzentriere mich wieder auf die Übung. Ich spüre, wie weit ich mich dehnen kann und auch, welche Unterschiede es auf der rechten und linken Seite gibt.
Am Ende aller Übungen aus dem Achtsamkeits-Yoga sind 45 Minuten vergangen und ich muss gähnen. Ich lächle, weil ich mich das erste Mal an diesem Tag nicht müde, sondern entspannt fühle. Offensichtlich hat es meinem Körper gutgetan. Später erklärt uns Sven, dass sich durch Achtsamkeits-Yoga der ganze Mensch im wahrsten Sinne des Wortes regeneriert.
Im eigenen Körper zu Hause
Nach knapp einer Stunde sitze ich entspannt und konzentriert im Kurs:
Das Gefühl, „nur im Kopf“ zu sein, hat sich gewandelt und das Bild, „sich im eigenen Körper zu Hause fühlen“ klingt jetzt nicht nur nach einer schönen Theorie.
Es fühlt sich ganzheitlicher an. Gedanken, Gefühle und mein Körper sind „gleichberechtigt“ und stehen mir als Ressourcen zur Verfügung.
Jon Kabat-Zinn, der Begründer des MBSR, bezeichnet den Körper als ein „absolut wunderbares Instrument“. Ich stelle mir die Frage, wie ich in den nächsten Tagen achtsamer mit mir und meinem Körper umgehen kann, um möglicherweise andere Wahrnehmungen zu haben und dadurch neue Erfahrungen zu machen. Für diese aktuelle Krise brauchen wir neue Lösungen, ganzheitliche Veränderungen, die nicht nur aus unserem Kopf kommen …
Ich gehe voller Motivation in die neue Praxiswoche, in der täglich Bodyscan und Achtsamkeits-Yoga auf meiner Agenda stehen. Ich bin gespannt.
Sabine Merdes
Teilnehmerin MBSR-Kurs
Trainerin, Beraterin, Coach, Moderatorin
Geschäftsführende Gesellschafterin
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