Agile Organisation – quo vadis? Folge III
Agile Mindset oder der lange Weg in die agile Unternehmenskultur
Die Mindset-Thematik lässt sich aus der Agile-Entwicklung nicht ausklammern. Für die Personal- und Organisationsentwicklung erwachsen riesige Chancen, sind sich T. Heupel und Prof. Dr. A. Komus einig. Dafür müssen diese sich den Herausforderungen stellen und den Schulterschluss mit der IT als der Wiege der Agilität suchen, um der zunehmenden Komplexität und Transformation in der Unternehmenswelt zu begegnen.
In der dreiteiligen Serie „Agile Organisation – quo vadis?“ beleuchten Prof. Dr. Ayelt Komus und Thomas Heupel im Gespräch mit Claudine Heinz die unterschiedlichen Facetten zur Entwicklung der agilen Organisation.
Agile verändert die Unternehmenskultur. Wer sitzt im Driver Seat?
Heupel: Die Mindset-Thematik spielt eine enorme Rolle. Die Menschen ändern sich ja nicht von heute auf morgen. Es geht darum zu analysieren, nach welchen Mechanismen Unternehmen funktionieren. Hier muss die Organisations- und Personalentwicklung mit ihren Werkzeugen ansetzen. Auch Führung bekommt einen ganz neuen, sehr wichtigen Stellenwert, denn das Rollenspiel verschiebt sich sehr stark. Führung entwickelt sich im Umfeld von agilen Methoden. Sie löst sich von einem stark sachbezogenen hin zu einem Personen-orientierten Führen, in dem es darum geht, Potenziale zu identifizieren, Räume zu schaffen. Hieran muss stark mit den Führungskräften gearbeitet werden.
Komus: Auch die Mitarbeitenden müssen ganz anders befähigt werden. Sie müssen wiederum selbst auch willens und in der Lage dazu sein. Denn die Führungskraft gibt jetzt eine übergeordnete Vision, eine Zielsetzung aus, die klar macht, warum wir das machen. Danach ist es die Aufgabe der Führungskraft Fragen zu besprechen und den Projektmitarbeitenden den Rücken freizuhalten.
Überall entsteht dadurch viel mehr Eigenverantwortung. Durch die Retrospektiven beim agilen Arbeiten wird schneller klar, wo die Defizite liegen. Unter dem Deckmantel des Wasserfalls, des klassischen Controlling etc. konnte man lange Zeit versuchen, die Kultur zu negieren. Das rächt sich auf lange Sicht immer. Agile ist in diesem Sinn Chance und Herausforderung zugleich. Denn Agile lebt eben davon, viel schnellere und auch viel fundiertere Feedback-Zyklen einzuziehen.
Welche Rolle spielen IT und Organisations- und Personalentwicklung auf dem Weg zur Agile Organisation?
Heupel: Wir diskutieren seit längerem intensiv, dass die aktuelle Situation eigentlich ein Eldorado für die Personalentwicklung sein müsste. Das komplette Portfolio der HR-Themen wird hier vor dem Hintergrund einer Entwicklung adressiert. Um aber damit konstruktiv umgehen zu können, sind Personalentwicklungen in vielen Organisationen zu wenig gut aufgestellt. Vielleicht liegt das auch daran, dass Personalentwicklung Vorgehens-klassisch orientiert ist: Man erhebt eine Diagnose der Organisation, entwickelt ein Ausbildungskonzept, führt die Maßnahmen durch. Dann macht man noch eine Erfolgsmessung und schließt das Thema damit ab. Der stärker iterative Ansatz, etwa Einheiten auch mal zu verkleinern, etwas schrittweise und nicht jahrelang geplant anzugehen, noch nicht genau zu wissen, welche Folgemaßnahmen im Jahr darauf daran angeknüpft werden, sondern überhaupt mal einen Lösungsraum zu haben, innerhalb dessen man sich bewegen will, dieses Denken ist noch nicht ausreichend etabliert. Auch die Instrumente der Agilität werden noch zu wenig in das Operative der Organisationsentwicklung integriert.
Think Big – die Stunde von HR und Organisationsentwicklung
Komus: Die Frage ist, ob HR- und Organisationsentwicklung nicht einen stärkeren Anspruch erheben müsste im Sinne von «Think Big». Nach dem Motto: Das ist jetzt unsere Stunde, die Organisation ganz massiv zu verändern und neu zu prägen. Wir entwickeln sie ganz gezielt strategisch weiter, um einen wichtigen Beitrag zur Zukunftsfähigkeit zu leisten.
Betrachtet man die Entwicklung der IT – die in den letzten Jahrzehnten vom Kellerkind aufgestiegen ist in die Vorstandsebene, wo CIOs plötzlich Themen der Zusammenarbeit im Unternehmen prägen, dann sieht man: Der IT ist ihre eigene Situation der Komplexität und permanenten Disruption auf die Füße gefallen. Die IT musste einfach springen, um nicht grundlegend zu scheitern. Wenn man so im Sturm steht, werden eben auch Helden geboren. Vielleicht standen die HR- und Organisationsentwicklungen nicht so sehr im Sturm, aber das ist nur eine Vermutung.
Digitalisierung bedeutet nicht nur Technik
Heupel: Eine weitere Hypothese wäre: Man hat gelernt, dass Digitalisierung nicht nur Technik bedeutet. Sondern sie bedeutet auch Umgehen mit Themen, mit Menschen, mit Teams. Das hat die IT in den letzten Jahren schmerzlich lernen müssen. Durch die Digitalisierung wird die technologische Voraussetzung geschaffen. Ihr Erfolg aber wird über Kommunikation sichergestellt. Das mag mit ein Grund sein, warum sich die IT auch ein wenig in die Domäne des HR hineinbewegt hat, in der ja der Mensch im Mittelpunkt steht. Es könnte vor diesem Hintergrund auch ein Argument von HR gewesen sein, sich ein wenig abzugrenzen. Denn HR-seitig versteht man Personalentwicklung insgesamt ein bisschen anders.
Komus: In diesem Zusammenhang fällt mir ein DAX 30-Unternehmen ein, bei dem Objectives & Key Results – eigentlich eines der zentralen Themen aus der Organisations- und Personalentwicklung – bei der IT verortet ist. Das mögen Einzelfälle sein. Aber hieran wird deutlich, dass diese Rollenverschiebung stattfindet. Die IT sieht sich vor die Aufgabe gestellt, jetzt auch Personalentscheidungen mit in ihr Denken und Handeln einzubeziehen. Meines Erachtens eine große Chance für die Personal- und Organisationsentwicklungsbereiche, sich der Themen anzunehmen und die Dinge konstruktiv mit voranzutreiben – natürlich gerne auch mit den Bereichen, die die Themen bereits treiben.
Was bedeutet Agile hinsichtlich des Einbezugs unterschiedlicher Sichtweisen?
Komus: Als Berater begleiten wir ganz aktiv, dass die Fachabteilungen stärker und vor allem früher einbezogen werden. Dafür müssen diese eine größere Reife an den Tag legen. Müssen raus aus ihrer Komfortzone, in der sie sich häufig eingerichtet haben. Werden Fachabteilungen auf einmal einbezogen, sitzen sie plötzlich im Driver Seat. Dann stellen sie fest, dass dies auch mit Einsatz, Arbeit und Verantwortung gepaart ist. Diese Art von cross-funktionaler Zusammenarbeit über das Organigramm funktioniert meist schon recht gut.
Manko: soziale, kulturelle, ethnische Diversität
Wo wir noch nicht so weit sind, ist eine Heterogenität im Sinne von sozialer, kultureller oder ethnischer Diversität. Denkt man etwa an Unternehmen, die zum Beispiel viel im asiatischen Markt tätig sind, in denen man aber in der Zentrale in Deutschland kaum einen Menschen mit asiatischem Hintergrund sieht. Angesichts der Notwendigkeit, die Sichtweisen zu vervielfachen und zu schärfen, erscheint mir dieser Aspekt derzeit noch weit untervertreten.
Kultur ist das Wichtigste, aber in meinen Augen auch das Schwierigste, wenn es darum geht, ein Unternehmen zu entwickeln. Sicher ist die Kulturveränderung am herausforderndsten und am langwierigsten. Agile sollte man daher an einzelnen Leuchtturm- oder Pilotprojekten ausprobieren, um es zu erfahren und zu verstehen. Das gibt dann Impulse für den wirklichen Kulturwandel. Und dieser sollte natürlich auch begleitet werden durch gezielte Maßnahmen aus der Personal- und Führungskräfteentwicklung.
Heupel: Wichtig erscheint mir auch zu differenzieren: Bei inhaltlichen Themen, beispielsweise wie man eine Supply Chain erneuert oder verbessert, hat man größtenteils erkannt, wie die unterschiedlichen Sichtweisen durch die Interdisziplinarität zum Erfolg beitragen. Soll aber eine Organisation insgesamt agiler, die Kultur weiterentwickelt werden oder ähnliches, gibt es häufig einen einzigen Haupttreiber: Meist ist es die IT, manchmal die Organisationsentwicklung oder auch die Geschäftsleitung. Genau dann sehen wir diese Interdisziplinarität und Vielfalt der Sichtweisen wieder eher selten. Stattdessen geht man eher klassisch vor. Anstatt sich agiler Methoden zu bedienen und ein interdisziplinäres Team mit allen relevanten Stakeholdern zu bilden, tickt man beim Setup dieser Themen im Großen und Ganzen noch sehr konservativ.
Viele Unternehmen verfolgen mittlerweile einen konstruktiv nüchternen Ansatz. Sie erwarten keine Wunderlösung mit Agilität. Sie wissen, dass agile Methoden nicht überall gleich wirken. Punktuell ziehen sie bei stark standardisierten Prozessen durchaus klassische Methoden vor. Sie arbeiten also sehr differenziert oder wie man häufig sagt hybrid damit. Insbesondere verstehen Unternehmen heute, dass sie Win-win-Situationen schaffen. Indem sie Ziele auf der inhaltlichen Ebene und gleichzeitig übergeordnete Entwicklungsziele der Organisation und ihrer Mitarbeitenden verfolgen können.
–> Folge I & II verpasst?
Hier geht’s zum Auftakt unserer dreiteiligen Serie Agile Organisation – quo vadis?
Folge I End-of-Hype-Cycle oder der hybride Weg zum Plateau der Produktivität.
Folge II Agile – ein Marathon
Prof. Dr. Ayelt Komus ist Wirtschaftswissenschaftler und seit 2004 Professor für Organisation und Wirtschaftsinformatik an der Hochschule Koblenz. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Agile Methoden, Projekt- und Prozessmanagement und Social Media. Prof. Dr. Komus ist Initiator verschiedener Studien in Zusammenarbeit mit Organisationen wie der Gesellschaft für Prozessmanagement, der Deutschen Gesellschaft für Projektmanagement (GPM) und Scrum.org. Er führte 2019/2020 zum vierten Mal die Studie Status Quo Agile durch. Sie ist mit mehr als 600 Teilnehmern die größte Studie zum Thema Agiles Projektmanagement im europäischen Raum. Prof. Dr. Komus ist wissenschaftlicher Beirat bei Heupel Consultants.
Thomas Heupel ist Geschäftsführer von Heupel Consultants. Er verfügt über mehr als 25 Jahre Beratungsexpertise in den Kompetenzfeldern Process-Excellence, IT-Excellence, Project-Excellence und Agile Excellence. Heupel hat einen Lehrauftrag u.a. für Organizational Change Management an der Hochschule Koblenz.
Claudine Heinz ist freischaffende Kommunikationsberaterin und war über 20 Jahre in der Unternehmenskommunikation, u.a. bei Swisscom in Bern und CSL Behring in Marburg, tätig. Ihre Schwerpunkte sind Internal & HR Communications, Change Management, Employer Branding und Design Thinking.
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